Sozialkunde Jahresbericht 2020/2021
„Ich bin Volker“
„Die heiratsfähige Weiblichkeit bekam verklärte Augen, ihre Mütter nickten ihm wohlwollend zu, Knaben und Mädchen dienerten und knicksten ehrerbietig - denn er war Lehrer, ein Beamter – und man schrieb das Jahr 1900.“ (Aus „Winklers Flügelstift 1/98“)
Sein Einkommen war gering, doch „die Jacke des Staates war eng, aber warm“, seine in der Ausbildung erworbenen Kenntnisse reichten für ein Berufsleben, und sein Ansehen stand hoch im Kurs.
Und heute, rund hundertzwanzig Jahre später, was ist geblieben von der Achtung, die man dem Lehrerberuf entgegenbrachte? Die Antwort lautet leider: Wenig. Täglich hört man, was in der Schule alles falsch läuft. Obwohl kaum jemand Lust hat, sich „mit den Kindern anderer Leute herumzuärgern“ (hat er doch mit den eigenen genug Schwierigkeiten), weiß jeder genau, was in der Schule alles falsch läuft. Schließlich ist auf diesem Gebiet jeder ein Experte – war er doch selbst mal Schüler.
Was ist geblieben von den Inhalten aus dem Sozialkundestudium? Auch hier lautet die Antwort: Wenig. Wenig deswegen, weil das Fach Sozialkunde, im Gegensatz zu einem Fach wie Mathematik – unsere Mathematiklehrer mögen es mir verzeihen - mit seinen vielen Facetten bzw. Inhalten permanenten gesellschaftlichen Anpassungsprozessen unterliegt und sich deswegen ständig inhaltlich verändert.
Die Gefahr besteht dabei jeweils, dass einzelne plötzlich auftauchende Themen zu viel Raum gewinnen, während andere wichtige Themen in den Hintergrund gedrängt werden. Ein Thema, das bewusst großen Raum in diesem Jahresbericht einnimmt, ist das Megathema „CORONA“, das uns seit dem Januar 2020, natürlich auch an unserer Schule, begleitet.
Die Folgen dieser Pandemie greifen so fundamental in unser soziales und politisches Miteinander ein, dass vehement vorgetragene Überzeugungen zum richtigen Umgang mit den sich ergebenden bzw. geleugneten Problemen zu einer unversöhnlichen Spaltung einzelner Gruppen bzw. letztendlich auch großer Teile der Gesellschaft führen kann. Das betrifft im unterrichtlichen Austausch auch unseren Mikrokosmos Berufsschule, der von einzelnen Kolleg*innen sicher zu Recht mit dem miniaturisierten Abbild der Gesellschaft verglichen wird.
Sich anschließende Stichworte in unserer Schule waren Distanzunterricht, Wechselunterricht, Präsenzunterricht, homeoffice, lockdown, Infektionsschutzgesetz, Coronamaßnahmen, Maskenpflicht, Schnelltests, Quarantäne, Hygienekonzepte, Angemessenheit, Schüler- und Lehrergesundheit und, und .... .
All das sind Begriffe, die vor dem 27. Januar 2020, dem Tag des ersten offiziell bestätigten Covid-19-Falls in Deutschland, schlichtweg kaum bzw. gar nicht vorkamen im Vokabular der Schulgemeinschaft.
Politische Angebote, wie sie in den vergangenen Jahren im Beruflichen Schulzentrum stattfinden konnten, mussten plötzlich zum Erliegen kommen. Gemeinschaft im Sinne von „politischen Veranstaltungen“ bei denen man mit Mitmenschen unterhalb des sog. Mindestabstandes zusammentraf, mussten tunlichst vermieden werden.
Gleichzeitig galt es, die Ängste und Bedenken im Unterricht zu thematisieren.
So manche Äußerung von Querdenkern, die die Corona Maßnahmen der Regierung und manchmal sogar die Existenz des Virus selbst infrage stellen, wurde angesprochen.
Wie spricht man dabei eigentlich mit sogenannten Querdenkern, ohne ständig missverstanden zu werden? Das Satiremagazin Postillon hat dazu die gebräuchlichsten Begriffe vom Deutschen ins Querdenkerische übersetzt:
Imp|fung: Zwangsverchippung
Co|ro|na: Harmlose Erkältung
Co|ro|na-Be|richt|er|stat|tung: Panikmache
Co|ro|na|to|te: traurige Folge globaler Hysterie und Panikmache
an: mit; Er starb mit Corona; Schau mich nicht so blöd mit!
mit: egal
20.000: 1,3 Millionen, vielleicht sogar 2,7 Millionen Demonstranten
Bruch|teil der Be|völ|ke|rung: das Volk; Wir sind das Volk!
Rest der Be|völ|ke|rung: Schlafschafe, Antifa
lü|gen, Tat|sa|chen ver|dre|hen: aufwecken
Ja|na aus Kas|sel: Sophie Scholl
...
Für einen Sozialkundelehrer sind neben diesen unsäglichen Sinnverdrehungen wohl zwei dieser „Übersetzungen“ gänzlich unerträglich.
Die Äußerung einer Jana aus Kassel, die ihren „Kampf“ gegen die „Coronadiktatur“ mit dem Widerstand einer Sophie Scholl gegen den Nationalsozialismus gleichsetzt, ist eine schier unglaubliche Anmaßung.
Die Verwendung des bei dem im Vorfeld der Wiedervereinigung durch mutige, ostdeutsche Demonstranten geprägten Rufes: „Wir sind das Volk“ bei einer Anti-Coronademonstration in Berlin, ist sicher nur durch die satirische Antwort eines einzelnen Gegendemonstranten, der ein Pappschild hochhielt mit der Aufschrift „Ich bin Volker“, zu ertragen.
Gleichzeitig gilt es im Unterricht den weit verbreiteten Verschwörungstheorien und Falschinformationen diverser sozialer Medien zu begegnen. Ein gerauntes "Is so, hab ich im Internet gelesen", ersetzt in vielen Gesprächen Logik und Vernunft. Ein kurzer Text, eine Mischung aus Verschwörungstheorie und Satire kann vielleicht als „Türöffner“ dienen, um im Unterricht ins Gespräch zu kommen.
Satire kann dabei der Unterhaltung dienen, häufig wird Satire auch als eine Kritik von unten (Bürgerempfinden) gegen oben (Repräsentanz der Macht) verstanden. Dabei kann Satire aber nie den Anspruch des „besser Machens“ liefern und wird deshalb oft als „zu einfach“ oder „misslungen“ bzw. „beleidigend“ verstanden.
Ein paar Beispiele wie Satire das „Bürgerempfinden“ in Bezug auf die Maßnahmen der „Macht“ aufgreifen kann, hat das Satiremagazin „Postillion“ im März 2021 mit den folgenden Schlagzeilen geliefert:
25.03.2021: „EU erwägt, Impfstoff künftig nicht mehr per Schildkröte auf Mitgliedstaaten zu verteilen.“
04.03.2021: „Strategiewechsel: Bürger sollen durch komplizierte Lockerungen so verwirrt werden, dass sie lieber zu Hause bleiben.“
Durchaus auch mit Bezug zu unseren Ausbildungsberufen und eng an Überschriften der Bildzeitung angelehnt, textete der „Postillion“:
01.03.2021: „Bundesweit 27.000 Ohren abgeschnitten, weil Friseure 4 Monate lang nicht üben konnten.“
Ob Satire allerdings überwiegend das alleinig richtige Mittel ist, Schüler auf diesem herausfordernden Weg zu begleiten, mag man mit Recht bezweifeln. Aber wenn man Dinge überspitzt, werden sie oft klarer auf den Punkt gebracht und schaffen Raum für einen anschließenden Austausch. Es gilt dabei auch den Blick zu lenken - weg von der wahrzunehmenden Ohnmacht, die manchmal die Erklärung für hasserfüllte Äußerungen sein kann - hin zu durchaus positiven Begleiterscheinungen (ohne den Anspruch des „Gutmenschentums“ erfüllen zu wollen) der momentanen Krise.
Die Menschen haben erkannt, dass sie sich nur selbst schützen können, wenn sie sich auf andere verlassen können. Diese gesellschaftliche Erkenntnis ist eine aktuelle Begründung von Solidarität, die seitdem in der Welt ist und sich hoffentlich weiterentwickelt. In seinem Buch zum Thema Solidarität schreibt der Soziologe Heinz Bude dazu am Schluss: „Man weiß den Gewinn der Solidarität nur zu ermessen, wenn man die Einsamkeit kennt“.
„Und wenn Sie an morgen denken, was fällt Ihnen da ein?“
Karl Valentin: „Hoffentlich wird es nicht so schlimm wie es schon ist! Aber ich habe keine Furcht, es sei denn, ich bekäme Angst“.
Angesichts der aktuellen Debatten und Konflikte in unserem Gemeinwesen, angesichts zunehmender Verschwörungstheorien und Spaltungsversuchen und einer immer komplexeren politischen Situation in der Welt ist politische Bildung wichtiger denn je, nicht nur, aber auch - wegen Corona.
Thomas Trappe
Sozialkundefachbetreuer