DDR-Zeitzeuge Lutz Quester
"Eigentlich war alles gut!"
Lutz Quester (geb. 1958 in Dresden) ist gelernter Elektriker. Nach zahlreichen Repressalien stellte er in den 80er Jahren regelmäßig für sich und seine Familie erfolglos Ausreiseanträge. Vor dem Hintergrund einer angedrohten Inhaftierung suchte er Hilfe bei der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik und machte im November 1984 vor deren Diensteingang mit einem Transparent auf seine geforderte Ausreise aufmerksam. Daraufhin erfolgte seine Verhaftung. Verurteilt zu einem Jahr und zehn Monaten wegen "Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit" , gelangte er im August 1985 im Rahmen des Häftlingsfreikaufs in die Bundesrepublik.
Wie war es "Damals in der DDR"? Wie haben sich die Menschen im Alltag mit dem "real existierenden Sozialismus" arrangiert?
Auf Einladung der Deutschen Gesellschaft e.V. aus Berlin erzählte Herr Quester seine persönliche Geschichte vor ca. 80 Schülern der Berufsschule Neumarkt; seine Erlebnisse zeigten den Alltag in der DDR in vielen Facetten: Anpassung und Widerstand, Freude und Furcht, Erfindungsreichtum und Mut. Das Bild, das dabei entstand, zeigte vor allem Eines: die menschliche Seite der deutsch - deutschen Geschichte. Auf den Vortrag von Fakten und Daten legte der gebürtige Dresdner, der heute in Nürnberg lebt, keinen großen Wert. Vielmehr ging es um seine persönlichen Erlebnisse und kleine, aber vielleicht gerade deswegen so eindrückliche Anektoden.
"Eigentlich war alles gut", so begann Herrr Quester seine Geschichte vor ca. 80 Schülern zu erzählen. "Aber mit dem eigentlich ist es so eine seltsame Sache", so fuhr er fort. "Was richtig gut war, die Oma wohnte bei uns und wenn wir mit dem Vater Streß hatten, konnten wir zur Oma gehen." Eigentlich habe er eine schöne Kindheit gehabt und er erinnere sich gerne an das Kirschenessen im Garten. "Wir haben Kirschen gegessen und Wasser getrunken und dann Dünnschiss bekommen und danach einen Anschiss."
Je älter er aber wurde, umso wichtiger wurde ihm die (politische) Wahrheit. Die Wahrheit - darum ging es Lutz Quester. Das Problem war, es gab für ihn in der DDR viele verschiedene Wahrheiten. In der Schule hörte er, dass die Sowjets alles richtig machten und dass von der Sowjetunion lernen, siegen lernen heiße. Zuhause, von seinem Vater, hörte er genau das Gegenteil.
Die schönste Wahrheit aber waren die Pakete aus Westdeutschland. Westjeans, ein Traum für jeden Heranwachsenden! Als er damit in der Schule auftauchte, wurde er nach Hause geschickt. "Das verstand ich nicht".
An Weihnachten schickte die Westverwandschaft u.a. Zitronat und Orangeat. "... ich lernte, in der DDR gab es nicht alles ... ".
Er wollte die Verwandschaft im Westen besuchen: Geht nicht! "Das hab ich nicht verstanden!".
Er wollte in den Urlaub in andere Länder fahren: Geht nicht! "Das habe ich nicht verstanden!".
Karl May Bücher wurden in der Nähe von Dresden gedruckt, in den Westen verkauft und in der DDR als Lektüre verboten. "Das habe ich nicht verstanden!"
Dieses "Nichtverstehen" vieler gesellschaftlicher Regelungen setzte sich in den nächsten Jahren in vielen Lebensbereichen fort. Gleichzeitig hatte er eine große Sehnsucht nach Amerika, das Land seiner Karl May - Helden. Erste Erfahrungen mit Amerikanern machte er in Berlin. "Sie sahen ganz normal aus. Nicht als ob sie uns den Kopf einschlagen wollten, so wie sie uns in der Schule erzählt hatten". Gleichzeitig nahm er die zunehmende militärische Konfrontation zwischen Ost und West wahr und hatte Angst, dass ihm der ganze Laden um die Ohren fliege. Kurz gesagt, er wollte weg.
Den Neumarkter Schülern gegenüber unterstrich er dabei, dass es ihm nicht um den Konsum ging. "Ich wollte die Freiheit. Freiheit selbst zu entscheiden, was ich arbeite, wo ich wohne, wohin ich mit welchem Auto in den Urlaub fahre. Freiheit nicht nur in meinem Kopf, sondern im gesamten Dasein".
Nach erfolglosem Ausreiseantrag kam Quester auf die, im Nachhinein, verrückte Idee, politischer Häftling zu werden. Dazu stellte er sich zusammen mit seinem Freund vor die ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin mit einem Plakat in der Hand, auf dem er die sofortige Ausreise für sich und seine Familie forderte.
Keine 30 Sekunden später wurde er von der Volkspolizei verhaftet und anschließend nach Hohenschönhausen ins Stasiuntersuchungsgefängnis gebracht. "Wißt ihr was man da wird? Da wird man sehr gläubig".
Kurz vor seiner, von dem bekannten DDR-Rechtsanwalt Vogel, verhandelten Ausreisemöglichkeit wurde er nach Chemnitz verlegt und dann zusammen mit 50 anderen "politischen Häftlingen" gegen Devisen in den Westen verkauft. Dort erhielt er 30,00 DM Begrüßungsgeld und fühlte sich mit "Tina Turner in der Musikbox, Frankfurter Würstchen und Bier" am Ziel seiner Träume. Danach war er mit seiner Familie in 26 Ländern der Welt.
Eine große Genugtuung empfand Herr Quester später, als er bei einem Berlinbesuch am Checkpoint Charly den Grenzsoldaten den "Stinkefinger" zeigen konnte. "Dieses Gefühl war nicht zu toppen!" „Und dann habe ich so gemacht“, sagte Quester und macht die Geste des Stinkefingers. Die Geste scheint auch knapp 35 Jahre später nichts an Inbrunst verloren zu haben, auch wenn Quester sie diesmal den Schülern der Berufsschule zeigt und nicht wie einst den DDR-Wachsoldaten. „Die haben mich sogar noch fotografiert“, erinnert sich der gebürtige Dresdner an die absurde Situation. Doch anhaben konnte das DDR-Regime ihm nichts mehr, er war bereits im Westen. In der Freiheit. Jenseits der Mauer, die die DDR-Bürger von jener trennte.
Nach der Maueröffnung stellte sich dann heraus, dass sein Onkel Heinz Mitglied der Stasi gewesen war. "Was sollte ich machen mit Onkel Heinz? Ich habe es aufs Abstellgleis geschoben und da steht es noch."
An die, trotz eines 90 Minuten langen Vortrags, immer noch sehr aufmerksamen Schüler appelierte er, dass sie ihre Fähigkeiten in die Hand nehmen und ihr Leben aktiv gestalten sollten. "Die ganze Welt beneidet uns Deutsche um unsere Möglichkeiten. Schaut euch dabei die Leute genau an, die euch politisch etwas erzählen wollen!"
Am Schluß wollte ein Schüler noch wissen, wie hoch denn der Preis war, den die Bundesrepublik für ihn bezahlt habe. Herr Quester erwiderte, dass er das nicht genau wisse, aber er schätze zwischen 50.000,00 und 80.000,00 DM. "... das war damals üblich, und die DDR brauchte immer Devisen ... ."
Man hatte den Eindruck, so formulierte es der Schulleiter OStD Hierl, als er sich bei Herrn Quester für sein Kommen bedankte, als ob Herr Quester in seinen Vorträgen das gerade Erzählte nochmal durchlebe. Für die Zuhörer mache gerade das die Lebensgeschichte so glaubhaft und spannend.
Vielen Dank Herr Quester für ein ganz großes Stück deutsche Zeitgeschichte!
Vielen Dank auch an Herrn Dehmel und die Deutsche Gesellschaft e.V., die dieses Zeitzeugengespräch erst ermöglichten.
Trappe
Sozialkundefachbetreuer