Sozialkunde Jahresbericht 2021/2022
Alle Staatsgewalt geht von Neumarkt aus!
Wir mögen es schon bald nicht mehr hören, aber Corona beschäftigt einfach – und immer noch das Berufliche Schulzentrum Neumarkt. Das letzte Jahr war erneut geprägt von vielen Verzichten und Umstellungen, gleichzeitig aber auch von einer gewissen, neuen Normalität. So ungewöhnlich es erschien, aber die Schulgemeinschaft hat sich an das „Maske tragen“, das regelmäßige Lüften, die morgendlichen Tests und die vielen anderen Begleiterscheinungen fast schon gewöhnt.
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Zeichneten sich bei Redaktionsschluss dieses Jahresberichts vorsichtige Coronalockerungen im Schulbetrieb ab, so beschäftigt uns seit kurzem ein Ereignis, das erneut vieles Andere, so wie Corona vor zwei Jahren, in den Hintergrund drängt:
Der Krieg in der Ukraine. Für die meisten von uns hörte die emotionale Landkarte knapp hinter der Uckermark auf, man schüttelt besorgt den Kopf über die Wahlergebnisse in Ostdeutschland und die Menschenrechtslage im EU-Mitgliedsstaat Polen, und dahinter begann – zumindest unserem emotionalen Wissen nach – bereits Russland. Seit Dezember letzten Jahres rückt die Ukraine auch bei der breiten Bevölkerung als eigenständiger Staat mehr ins Bewusstsein, erst recht seitdem der Ukrainekrieg unsere Nachrichtensendungen dominiert.
Ganz nebenbei: Was ist mit unserer Anteilnahme an dem Krieg in Syrien?
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Wie aber gelingt es solche Konflikte in einer Art und Weise zu vermitteln, die dem Begriff „Sozialkunde“ gerecht werden? Wie politisch dürfen Lehrkräfte dabei sein? Wie können Schüler hier zu einem eigenen Urteil kommen?
Auch wenn mancher Leser jetzt vielleicht denkt: „Na, bei dem Ukrainekonflikt ist doch klar, wer der Aggressor ist und wer sich verteidigt“, ist es überaus wichtig, dass Schüler selbst zu ihrem Urteil kommen können. Es gilt also nicht durch gutgemeinte Lautsprecherdurchsagen vorzugeben „Wir sind für die Ukraine“ oder „Wir sind für Russland“, sondern es gilt die SuS zu befähigen, aufgrund von ausgewogenen Unterrichtsinhalten zu einer persönlichen Einordnung des politischen Inhalts zu gelangen.
Grundvoraussetzung dafür ist die Fähigkeit der politischen Urteilsbildung, denn nur wer in der Lage ist, sich selbstständig ein eigenes, abwägendes Urteil in politischen Fragen zu bilden, kann als mündiger Bürger oder mündige Bürgerin in einer demokratischen Gesellschaft agieren.
Doch wie schafft man das und was müssen politisch Bildende dabei beachten?
Antworten darauf findet der Beutelsbacher Konsens. Er gibt seit 1976 den Handlungsrahmen für die politische Bildungsarbeit vor – und das, obwohl er nie formell beschlossen wurde, sondern „lediglich“ das Protokoll einer Tagung von Politikdidaktikern im schwäbischen Beutelsbach war. Ziel der Tagung war es zu klären, wie man eine parteipolitische Vereinnahmung der politischen Bildung gerade in Zeiten einer hohen gesellschaftspolitischen Polarisierung verhindern kann. Heraus kam ein Minimalkonsens, der allerdings bis heute große Wirkung auf die politische Bildungslandschaft entfalten konnte.
Im Beutelsbacher Konsens werden folgende drei Grundprinzipien als Voraussetzung für eine gelingende politische Bildung in einem demokratischen Umfeld formuliert:
Überwältigungsverbot
Das Überwältigungsverbot gibt vor, dass es Lehrkräften nicht erlaubt ist, Schülerinnen und Schüler mit einer Meinung zu überrumpeln oder sie in eine Richtung zu drängen und so an der Bildung eines selbstständigen Urteils zu hindern. Hier ist die Grenze von politischer Bildung zur Indoktrination überschritten, was der Zielvorstellung der politischen Mündigkeit widerspricht.
Das Gebot der Kontroversität
Das Kontroversitätsgebot ist eng mit dem Überwältigungsverbot verknüpft. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Verschiedene Meinungen und Perspektiven müssen dargestellt werden. Werden hingegen unterschiedliche Standpunkte und Sichtweisen gezielt unterschlagen oder ausgeblendet, ist der Weg zur Indoktrination wiederum beschritten. Die politische Meinung der Lehrkraft sollte unerheblich bleiben.
Das Prinzip der Schülerorientierung
Schülerinnen und Schüler müssen in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und ihre eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne der eigenen Interessen zu beeinflussen.
Die Einhaltung dieser drei Prinzipien ist in der Praxis eine anspruchsvolle Aufgabe, die es den Sozialkundelehrern ständig abverlangt, sich zu hinterfragen und eigene Herangehensweisen in Frage zu stellen, denn „Politiklehrer“ befinden sich ständig im Spannungsfeld aus eigener Meinung und Kontroverse.
Wie aber gelingt es ganz generell Urteilsbildung und Demokratie fortzuentwickeln? Trauen wir uns mehr Demokratie zu wagen? Kann es mehr demokratische Prozesse im schulischen Kontext geben? Trauen wir uns einen Schritt nach vorne zu gehen? Erfordert das Mut? Wenn ja, kann man „Mut“ messen?
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Wie mutig ist es, in den Hauptnachrichten des ersten russischen Fernsehkanals ein Plakat gegen den Ukrainekrieg in die Kamera zu halten? Wer von uns hätte, wie die Journalistin Marina Owsjannikowa, Tochter eines Ukrainers und einer Russin, diesen Mut gehabt? Dort stand auf Russisch „Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen.“ Wer von uns wäre bereit gewesen, seine ganze materielle und berufliche Existenz für einen „Moment der Wahrheit“, für Meinungsfreiheit aufs Spiel zu setzten?
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Wenn man sich die mutigen Russen anschaut, die gegen den Krieg auf die Straße gehen und dabei die Festnahme riskieren, relativieren sich die Vorwürfe der sogenannten Querdenker in Deutschland, die bei der ungehinderten Wahrnehmung ihres Demonstrationsrechtes absurderweise behaupten, man dürfe in Deutschland nicht mehr seine Meinung äußern.
Das Problem, inwieweit demokratische Entscheidungsprozesse auch in Subsystemen zugelassen sind – sein können -, wird auch in unserer eigenen Gesellschaft deutlich.
Ein System, das sich über Jahrhunderte demokratischen Tendenzen erfolgreich widersetzte ist die katholische Kirche in Deutschland. Das katholische Führungspersonal ist Männersache - aus Sicht des weltlichen Arbeitsrechts eine grundrechtsverletzende Männer-Domäne. Etwa 1,2 Milliarden katholische Gläubige in aller Welt unterstehen einem rein männlichen Kleriker-Kartell.
Das Machtzentrum ist dabei an Papst, Kardinäle und Bischöfe gebunden, die auf nationaler Ebene in Deutschland von allen Steuerzahlern aufgrund eines 220 Jahre alten Vertrages mitfinanziert werden. In dem sogenannten Reichsdeputationshauptschluss von 1803 beschlossen die deutschen Fürsten die Enteignung kirchlichen Vermögens. Dafür verpflichteten sie sich im Gegenzug als Entschädigungsleistung zur Finanzierung der Seelsorger.
Obwohl das Grundgesetz bzw. die Weimarer Verfassung die Ablösung dieser Zahlungen seit langem fordert, finanzieren die deutschen Steuerzahler, unabhängig davon, ob sie gläubig sind oder nicht, u.a. die Bischofsgehälter, die je nach Rang nach aktueller Besoldungsordnung monatlich 10.000 bis 13.000 Euro betragen. Insgesamt kommt dabei rund eine halbe Milliarde Euro pro Jahr zusammen.
Sie, die Führungsspitze allein interpretieren die verbindlichen Lehrgrundlagen, setzen sie um in kirchliche Dogmen und kirchliche Gesetzgebung. Alle Gläubigen haben ihnen zu folgen und gehorsam zu sein – umgekehrt sind die Kirchenmänner ihren gläubigen Laien in kaum einer Weise rechenschaftspflichtig. Ein eindeutiges Machtverhältnis: Laien haben zu beten und zu hoffen, Kirchenmänner bestimmen und entscheiden. Von Demokratie mag man hier nicht sprechen.
Doch es gibt Bewegung in der katholischen Kirche. Kirchlich gebundene und organisierte Gläubigkeit schwindet, das beweisen die rückläufigen Mitgliederzahlen. Das hat mit aktuellen Missbrauchs- und Finanzskandalen zu tun, aber auch mit einem Menschenbild, das an Überzeugungskraft verliert.
Ein „hin zu mehr demokratischen Forderungen von unten“ ist nicht zu übersehen.
Engagierte Laien wie die katholische Frauenbewegung „Maria 2.0“ wollen endlich Änderungen, Mitsprache und Transparenz - demokratische Tugenden. Sie wollen sich nicht mehr mit den üblichen "Dialog"-Inszenierungen befrieden lassen, wo in "gemeinsamen Beschlüssen" Partizipation simuliert wird, ihnen aber in Wahrheit nur eine unverbindliche Meinungsäußerung eingeräumt wird. Dort, bei dem sogenannten „synodalen Weg“ – so der Professor für Kirchenrecht an der Universität Bonn Norbert Lüdecke beinahe ketzerisch – lassen sich "engagierte Laien auf ein betreutes Diskutieren ein, bei dem sie sich in den ohnehin überschaubaren Debattenphasen noch von liturgischen Feiern und sogenannten 'EinHalten' unterbrechen lassen."
Hoffen wir, dass diese Gesprächsangebote im Rahmen des „synodalen Weges“ und die Ausrufung von Offenheit und Teilhabe nicht nur als klerikale Marketing-Strategien benutzt werden und sich das Subsystem Kirche traut, mehr Mitbestimmung zu wagen.
Zweiflern sei Seneca angeraten: „Nicht, weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, wird es schwer.“
Einen kleinen Fortschritt – weg von dogmatischen Inhalten, hin zu mehr Offenheit bzgl. anderer Glaubensvorstellungen - kann man sicher auch im Bereich unserer Berufsschule erkennen, wo seit geraumer Zeit evangelische und katholische Schüler im Rahmen eines Schulversuchs zusammen beschult werden, auch wenn die eigentlichen Gründe ursächlich in stark zurückgehenden Zahlen auf Seiten der gläubigen Schüler und dem Nachwuchsmangel bei den verkündenden Priestern (männlich) bzw. Laien/Laiinnen liegen.
Demokratische Prozesse einzuüben ist eine wichtige Aufgabe schulischer Bildung. Wer unter 18 Jahre alt ist, durfte bei der Bundestagswahl im Herbst 2021 noch nicht wählen. Im Grundgesetz steht aber : „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Weiter heißt es da: „Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (…) ausgeübt.“ Die in diesem Schuljahr an unserer Schule durchgeführten Juniorwahlen boten deshalb auch Minderjährigen die Möglichkeit, die Demokratie trotzdem schon zu erproben. Parallel zur Bundestagswahl fanden die Neumarkter Juniorwahlen deshalb am 26. September 2021 am Beruflichen Schulzentrum statt. Für kurze Zeit galt: Alle Staatsgewalt geht von Neumarkt aus! Hier ist das Ergebnis vom „Wahlabend“:
Das Ziel politischer Bildung ist die Stärkung der Demokratie. Sie ist deshalb ein wichtiger Bestandteil einer freien, offenen Gesellschaft. Ihr Fundament ist das Werte- und Demokratieverständnis des Grundgesetzes, die freiheitliche demokratische Grundordnung. Sie hat zwar parteipolitisch neutral zu sein, ist aber nicht wertneutral. Dies wird auch sehr deutlich im neuen Sozialkundelehrplan, der seit diesem Schuljahr umzusetzen ist. Politische Bildung soll dabei Menschen dazu befähigen, sich an demokratischen Prozessen zu beteiligen.
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Grundsätzlich müssen wir lernen, dass wir für demokratisches Verhalten in unserem Umkreis selbst verantwortlich sind. Das gilt im Klassenverband genauso wie im Lehrerzimmer. Die Stärke des Rechts muss über dem Recht des Stärkeren stehen. Wir tragen eine Verantwortung, die über unsere eigenen Interessen und die anderer Personen und deren Machtinteressen hinausreicht.
Wer das nicht versteht, trägt indirekt dazu bei, dass sich Machtstrukturen einer Gesellschaft bzw. eines Teilsystems verfestigen, die zur Folge haben, dass demokratische Strukturen insgesamt in Gefahr geraten. Gleichzeitig funktionieren die Strukturen nicht mehr so gut, weil ein Teil ihrer Kraft dazu verwendet wird, der Person an der Spitze zu gefallen.
Bundespräsident Steinmeier formuliert es so: „Welche andere Staatsform trägt in sich eine solche Kraft zur Erneuerung und stetigen Verbesserung – gerade weil sie Fehler und Korrekturen erlaubt? In einer Zeit, in der Autokraten und selbsternannte starke Männer immer selbstsicherer auf die Bühne treten, rate ich uns Demokratinnen und Demokraten zu dem gelassenen Bewusstsein: Die Stärke von Demokratien liegt nicht in ihrem Sendungsbewusstsein, sondern in ihrer Fähigkeit zur Selbstkritik und zur Selbstverbesserung“.
Quelle: Marko Kafé - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, httpscommons.wikimedia.orgwindex.phpcurid=102395390.jpg"
Es kann sein, dass wir aus einer konsequenten demokratischen Haltung gegenüber menschenrechtsverletzenden Staaten einen großen wirtschaftlichen Schaden erleiden, es kann aber auch sein, dass wir erkennen, was wirklich wichtig ist in unserem Leben, dass dieses ständige Wachstum eine absurde Idee einer Konsumgesellschaft auf Kosten zukünftiger Generationen ist. Die Auswirkungen der Klimaerwärmung werden jedes Jahr sichtbarer. Es ist an der Zeit zu erkennen, wie wenig wir tatsächlich brauchen, um ein sinnerfülltes Leben führen zu können.
Trappe, StD
Sozialkundefachbetreuer